Diese Auswertungsseite verfolgt das Ziel Interessierten nicht nur einen besseren Zugang zu der von uns geschaffenen empirischen Basis über antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein und den darauf getroffenen Einschätzungen, sondern auch zu notwendigen und weiterführenden Informationen über das Erfassungssystem von LIDA-SH sowie zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus zu bieten. Diese Auswertungsformat betrachten wir dabei nicht als abgeschlossen, sondern als vorläufiges Ergebnis eines längerfristigen Prozesses, der nur durch unsere externen Partner_innen möglich geworden ist.
Zuallererst gilt unser Dank unseren jüdischen Partner_innen: Für ihr Vertrauen, ihre Bereitschaft uns an ihren Perspektiven teilhaben zu lassen und ihre kontinuierliche Unterstützung in unserer Arbeit. Dann möchten wir uns bei unseren weiteren Netzwerkpartner_innen bedanken. Mit ihren Meldungen haben sie wesentlich dazu beitragen Antisemitismus sichtbarer zu machen. Schließlich möchten wir WhiteTitle, die LIDA-SH von Beginn an in der Konzeption und Umsetzung der visuellen Kommunikation maßgeblich unterstützt haben und Science Communication Lab, die mit ihrer großzügigen Unterstützung die Auswertungsseite in dieser Form erst ermöglicht haben, danken.
LIDA-SH ist die unabhängige Dokumentationsstelle für antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein. Wir dokumentieren antisemitische Vorfälle und werten sie strukturiert aus. Unser Ziel ist es Ausmaß, Formen und Schwerpunkte des Phänomens zu erheben. In unserer Arbeit orientieren wir uns an internationalen Standards …
Alle, die von einem antisemitischen Vorfall mitbekommen haben, können sich an LIDA-SH wenden. Sowohl Betroffene, Angehörige und Bekannte von Betroffenen als auch Zeug_innen.
LIDA-SH erfasst auch Vorfälle, die (noch) nicht bei der Polizei angezeigt wurden oder keinen Straftatbestand erfüllen. Informationen werden von uns grundsätzlich vertraulich behandelt. Wir verwenden Daten ausschließlich in anonymisierter Form, die keine Rückschlüsse auf natürliche Personen zulässt.
LIDA-SH wird durch das Landesdemokratiezentrum im Rahmen des Landesprogramms zur Demokratieförderung
und Rechtsextremismusbekämpfung gefördert.
Antisemitismus als alltägliches Phänomen manifestiert sich in unterschiedlichster Form und Intensität. Dabei ist die Dokumentationsstelle zentral auf konkrete Hinweise auf antisemitischen Vorfällen angewiesen. Gibt es Hinweise auf einen antisemitischen Vorfall in öffentlich zugänglichen Medien, wie etwa Zeitungen oder Polizeimeldungen, …
recherchieren wir alle notwendigen Informationen proaktiv. Werden Vorfälle nicht öffentlich bekannt, sind wir darauf angewiesen, dass Personen, die von einem antisemitischen Vorfall wissen, sich auch bei LIDA-SH melden.
Wie viele Vorfälle LIDA-SH dokumentiert, ist demnach nicht nur von der tatsächlichen Anzahl antisemitischer Vorfälle, sondern von vielen weiteren Faktoren – wie etwa den Bekanntheitsgrad der Dokumentationsstelle, die Sensibilität von potentiellen Melder_innen für Antisemitismus oder das Vertrauen von Melder_innen in die Dokumentationsstelle – abhängig.
Antisemitische Vorfälle, die LIDA-SH bekannt wurden, werden in einem strukturierten Prozess – häufig im Austausch mit Meldenden – auf Plausibilität geprüft und anschließend strukturiert erfasst. LIDA-SH erhebt zu jedem Vorfall im Rahmen des Möglichen Informationen auf vier Ebenen:
1. Charakteristika des Vorfalls
2. Ort und Kontext des Vorfalls
3. Informationen zu Betroffenen/Adressierten
4. Informationen zu Täter_innen/Verantwortlichen
5. Informationen zur Meldung
Neben der Dokumentation antisemitischer Vorfälle gehört die Auswertung der erhobenen Vorfälle zu den zentralen Aufgaben der Dokumentationsstelle. Im Rahmen des communitygestützten Ansatzes bezieht LIDA-SH unterschiedliche jüdische Perspektiven aus Schleswig-Holstein kontinuierlich in die eigene Arbeit, …
insbesondere aber in den Auswertungsprozess, aktiv mit ein. Unser Dank gilt an dieser Stelle denjenigen, die uns in den letzten Jahren an ihren Perspektiven haben teilhaben lassen.
Die Ergebnisse dieser Auswertungsprozesse macht LIDA-SH jährlich der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Jahre 2019 und 2020 sind dabei zwei Broschüren entstanden, in denen die empirischen Erkenntnisse und die darauf aufbauenden Analysen zum Phänomen Antisemitismus in Schleswig-Holstein vorgestellt werden. Diese können hier eingesehen werden.
Ausgangspunkt unserer Analysen sind die für ein Jahr dokumentierten antisemitischen Vorfälle. Demnach beziehen sich sämtliche Aussagen zu aktuellem Ausmaß und Struktur, sowie zu Veränderungen und Verschiebungen immer nur auf die von LIDA-SH dokumentierten Vorfälle. Auch wenn wir mit einem niedrigschwelligen Angebot …
die bestehenden Hemmschwellen bei der Meldung von Vorfällen senken können und kontinuierlich am Ausbau unseres Meldenetzwerkes arbeiten, müssen wir doch davon ausgehen, dass auch die von uns dokumentierten Vorfälle nur einen Ausschnitt des tatsächlichen alltäglichen Antisemitismus erfassen. Unsere Ergebnisse können das sogenannte Dunkelfeld also ein Stück weit erhellen – gänzlich auflösen lässt es sich nie.
Auch in Schleswig-Holstein ist Antisemitismus ein komplexes Phänomen, das sich in unterschiedlichster Form und Intensität ausdrückt. Für das Jahr 2022 hat LIDA-SH mit 79 Vorfällen einen leichten Anstieg antisemitischer Vorfälle verzeichnet. Im Schnitt erfasst LIDA-SH damit mehr als einen Vorfall pro Woche. Die Struktur der dokumentierten Vorfälle verweist dabei auf ein massives Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle: Es muss davon ausgegangen werden, dass nur ein Bruchteil der Vorfälle auch von LIDA-SH dokumentiert werden konnten.
Auch wenn der Großteil der dokumentierten Vorfälle unterhalb der Schwelle zum Angriff zu verorten ist, dokumentiert LIDA-SH einen neuen Höchststand an Vorfällen, die mit einem erhöhtem Gefährdungspotential für Betroffene einhergehen.
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Hinzu kommt, dass in den Vorfällen deutlich häufiger als in den vergangenen Jahren konkrete Personen oder Institutionen adressiert werden. Immer häufiger adressieren die Vorfälle zudem ganz direkt Jüdinnen und Juden sowie Orte jüdischen Lebens. Diese Vorfälle passieren dabei nicht im luftleeren Raum, sondern sind vielmehr Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Klimas, in dem gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Angriffe erst möglich werden.
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Antisemitische Vorfälle finden häufig im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder in der Schule statt – immer wieder aber auch im direkten Wohnumfeld von Betroffenen. Die hohe Zahl verhältnismäßig niedrigschwelliger Vorfälle in Kombination mit den ganz unterschiedlichen Orten, an denen diese stattfinden, verweist auf eine erschreckende Alltäglichkeit antisemitischer Vorfälle.
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Innerhalb der dokumentierten Vorfälle nimmt der Israelbezogene Antisemitismus eine zunehmend bedeutende Rolle ein. In 2022 ist er die am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform. Das hohe Maß an Verschiebungen innerhalb unterschiedlicher Erscheinungsformen des Antisemitismus verweist dabei auf die Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen für die öffentlich wahrnehmbare Artikulation von Antisemitismus.
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EBENE 1
DELIKTQUALITÄT 2022
DELIKTQUALITÄT (AUSGEWÄHLT) 2019-2022
Die Varianz der dokumentierten antisemitischen Vorfälle ist groß.
Nach wie vor äußert sich Antisemitismus besonders häufig verhältnismäßig niedrigschwellig in Form von verletzendem Verhalten. Dies verweist in erster Linie auf eine erschreckende Alltäglichkeit antisemitischer Vorfälle: Es muss davon ausgegangen werden, dass gerade diese deutlich häufiger passieren, als sie bei LIDA-SH gemeldet werden.
Von der Deliktqualität lässt sich nicht unmittelbar auf die Auswirkungen schließen, die ein antisemitischer Vorfall haben kann. Mit den potentiellen Auswirkungen antisemitischer Vorfälle beschäftigt sich die Auswertungsbroschüre aus dem Jahr 2019 sowie die Publikation unseres Bundesverbandes.
Für das Jahr 2022 verzeichnet LIDA-SH einen neuen Höchststand an Vorfällen, die mit einer erhöhten Gefährdungspotential für Betroffene einhergehen. Eine Entwicklung, die sich bereits im Vorjahr andeutete. Es zeigt sich, dass das antisemitische Grundrauschen ohne weiteres in Gewalttaten umschlagen kann. Zudem wurde eine deutliche Zunahme gezielter antisemitischer Sachbeschädigungen, häufig an den gleichen Orten, dokumentiert.
LIDA-SH unterscheidet je nach Art und Schwere des Vorfalls sechs verschiedene Deliktqualitäten. Diese Typen wurden ursprünglich vom Community Security Trust (CST) in Großbritannien entwickelt und zunächst von RIAS Berlin und dann von LIDA-SH für den deutschen Kontext angepasst.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Deliktqualitäten:
ERSCHEINUNGSFORM 2019–2022
Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren ist der Post-Schoa-Antisemitismus nicht mehr die häufigste dokumentierte Erscheinungsform. Dieser bewegt sich innerhalb der dokumentierten Vorfälle zwar auf einem konstant hohen Niveau, wird hinsichtlich der für das Jahr 2022 dokumentierten Vorfälle aber von einem Israelbezogenen Antisemitismus abgelöst.
Einen Großteil der dokumentierten Vorfälle, die dieser Erscheinungsform zuzuordnen waren, machen dabei antisemitische E-Mails aus, die an Geschäftsstellen von antisemitismuskritischen Institutionen gerichtet waren. Daneben wurden vermehrt Vorfälle im Kontext von Demonstrationen, aber auch im Sozialraum Schule oder an öffentlichen Orten außerhalb spezifischer Veranstaltungen dokumentiert.
Vorfälle, die einem modernen Antisemitismus zuzuordnen waren, wurden für das Jahr 2022 noch seltener dokumentiert als für das Vorjahr.
Wie die Verschiebungen sowohl von Jahr zu Jahr als auch innerhalb der Jahre deutlich zeigen, ist die Struktur und Verbreitung antisemitischer Vorfälle im hohen Maße von Gelegenheitsstrukturen abhängig. Ob sich die aktuelle Entwicklung fortsetzen wird, hängt demnach auch davon ab, welche Artikulationsräume für die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus entstehen und wie lange sich diese halten können.
Antisemitismus drückt sich in vielfältiger Art und Weise aus. Diese Kategorie erfasst welche Erscheinungsform des Antisemitismus in dem Vorfall zum Ausdruck kommt. Oft sind die Erscheinungsformen, in denen der Antisemitismus zum Ausdruck kommt in der Praxis miteinander verwoben. Bei dieser Differenzierung handelt es sich um eine kategorial-analytische Trennung in der erfasst wird, welche Erscheinungsform vordergründig ist.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Erscheinungsformen:
EBENE 2
VERTEILUNG LANDKREISE
In 2022 hat LIDA-SH für die meisten Landkreise in Schleswig-Holstein antisemitische Vorfälle dokumentiert. Dabei fällt auf, dass mit Abstand die meisten Vorfälle für die Stadt Kiel dokumentiert wurden. Anders als die Zahlen vermuten lassen, bedeutet dies nicht unbedingt, dass sich in Kiel deutlich mehr antisemitische Vorfälle als anderswo ereignen. Die Fülle der dokumentierten Vorfälle deutet zunächst auf einen hohen Grad der Vernetzung und damit auf die Bekanntheit des Angebots von LIDA-SH hin. Auch die infrastrukturellen Begebenheiten der Großstadt, mitsamt der Fülle der hier ansässigen Institutionen, bieten hier einen Erklärungsansatz.
Bei der Verteilung der Erscheinungsformen aufgeschlüsselt nach Landkreisen fällt insgesamt eine breite Streuung auf. Dies zeigt, dass es überall zu antisemitischen Vorfällen ganz unterschiedlicher Erscheinungsform kommen kann.
Unter Ort wird der Landkreis (oder die Kreisfreie Stadt), in dem sich der Vorfall ereignet hat angegeben. Dies Erfassung der Landkreise ist hilfreich um „weiße Flecken“ erkennen zu können und Hotspots antisemitischer Vorfälle lokalisieren zu können. Die Angabe der konkreten Straße kann zudem hilfreich sein um zu überprüfen, ob ein Vorfall möglicherweise bereits dokumentiert wurde. Eine weiterführende Erfassung des Ortes, an dem sich ein Vorfall ereignet hat, wie Stadt und Straße, wird nach Möglichkeit wird zwar durchgeführt, aber zum Schutz der Anonymität von Meldenden und Betroffenen nicht veröffentlicht. Die Erfassung ist dennoch notwendig, da so sichergestellt werden kann, dass Vorfälle – wie zum Beispiel eine Sachbeschädigung im öffentlichen Raum – nicht mehrfach dokumentiert wird.
VERTEILUNG SOZIALER RAUM
(aufgeteilt nach Lokalität)
Die Struktur der antisemitischen Vorfälle zeigt, dass solche Vorfälle an nahezu allen Orten und in vielfältigen Kontexten passieren.
Bei einem Großteil der dokumentierten Vorfälle am Arbeitsplatz handelt es sich um Mails mit antisemitischer Propaganda.
Auch in 2022 wurden etliche Vorfälle im Kontext von Demonstrationen dokumentiert. Hier materialisieren sich antisemitische Einstellungen öffentlich wahrnehmbar als Teil einer bewussten politischen Artikulation auf der Straße.
In 2022 wurden wiederholt antisemitische Vorfälle dokumentiert, die sich an einem geschützten Ort, wie etwa dem Wohnumfeld, ereignet haben. Auch wenn diese Vorfälle bei weitem nicht den Großteil der dokumentierten antisemitischen Vorfälle ausmachen, sind diese dennoch im Besonderen ernst zu nehmen. Gerade Vorfälle im persönlichen Nahraums können das Sicherheitsgefühlt von Betroffenen massiv beeinträchtigen.
Grundsätzlich verweist die Vielfältigkeit der sozialen Kontexte und Lokalitäten, an denen antisemitische Vorfälle dokumentiert wurden, auf die Allgegenwärtigkeit von Antisemitismus: Nahezu überall kann es zu antisemitischen Vorfällen kommen.
Unter Tatkontext/sozialer Raum wird der soziale Kontext in dem ein Vorfall stattfindet, erfasst. Gerade im Hinblick auf Vorfälle, die im Internet stattfinden bzw. über das Internet vermittelt sind, erscheint eine solche Differenzierung notwendig: Wenn beispielsweise Personen in einer geschlossenen Chatgruppe einer Schulklasse antisemitische Memes verbreiten, so ereignet sich dieser Vorfall zwar online, hat aber gleichzeitig einen eindeutigen Bezug zu der jeweiligen Schulklasse und damit zum sozialen Raum Schule.
EBENE 3
ADRESSIERUNG 2019–2022
Eine besonders auffallende Entwicklung kann in Bezug auf die Adressierung der dokumentierten Vorfälle gemacht werden. Während sich in den Vorjahren ein Großteil der dokumentierten Vorfälle nicht gegen konkrete Einzelpersonen oder Institutionen richtete, kehrte sich dieses Verhältnis für die im Jahr 2022 dokumentierten Vorfälle um. Ausschlaggebend für diese Entwicklung scheinen vor allem wiederkehrende Vorfälle zu sein, in denen Institutionen adressiert werden. In 2022 waren dies einerseits antisemitische Mails und andererseits wiederholte Sachbeschädigungen an Erinnerungszeichen an die Shoa.
Dokumentierte Vorfälle sind nicht nur häufiger adressiert, sie adressieren zudem auch häufiger Jüdinnen und Juden sowie Orte jüdischen Lebens. Auch solche Vorfälle finden nie in einem luftleeren Raum statt – das massive antisemitische Grundrauschen, welches LIDA-SH seit 2019 dokumentiert, muss vielmehr als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden, in der gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Angriffe erst möglich werden.
Unter Adressierung wird erfasst, ob sich ein Vorfall gegen eine bestimmte Person, Gruppe oder Institution richtet, um wen es sich dabei ggf. handelt und ob diese Person direkt adressiert wird. So ist beispielsweise die Schmiererei „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ an einer Bushaltestelle eindeutig antisemitisch und gegen Juden gerichtet. Allerdings wird dabei weder eine konkrete Person noch eine Institution direkt adressiert. Im Unterschied dazu richtet sich die Verwendung des Ausspruchs „Du Jude“ als Beleidigung gegen eine konkrete Person.
Sofern in einem Vorfall eine Person oder Institution direkt adressiert wird, erfasst LIDA-SH auch in welchem Verhältnis Adressierte zu Täter_innen bzw. Verantwortlichen stehen.
EBENE 4
VERTEILUNG MILIEU 2022
VERTEILUNG GESCHLECHT 2022
Wenn Täter_innen und Verantwortliche einem zu einem spezifischen Milieu zuordenbar waren, dann einem extrem rechten. Auffallend ist dabei, dass in den Landkreisen, aus denen verhältnismäßig wenig Vorfälle gemeldet werden, der Anteil an Vorfällen, die einem extrem rechten Milieu zuzuordnen waren, besonders hoch ist.
Es ist davon auszugehen, dass auch in diesen Landkreisen deutlich mehr Vorfälle passieren, jene aus einem extrem rechten Milieu aber eher bei LIDA-SH gemeldet werden.
Nach wie vor äußern sich die meisten Vorfälle aber in einer Art und Weise, die keinerlei Zuordnung zu irgendeinem politischen Milieu erlauben. Hier zeigt sich, dass antisemitische Einstellungen, die sich jederzeit in antisemitischen Vorfällen materialisieren können, nicht nur ein Phänomen an vermeintlichen „politischen Rändern der Gesellschaft“, sondern ein tief in der Gesamtgesellschaft verwurzeltes Problem darstellen.
Eindeutiger ist die die Verteilung hingegen in Bezug auf das Geschlecht von Verantwortlichen bzw. Täter_innen. Wenn diesbezüglich eine Einordnung möglich ist, so ging ein Großteil dieser Vorfälle von männlichen Personen aus.
Wir von LIDA-SH sprechen von Täter_innen bzw. Verantwortlichen, da der Täter_innen-Begriff nicht bei allen antisemitischen Vorfällen trennscharf ist. Etwa, wenn sich ein Kind in der Schule implizit antisemitisch äußert, fehlt es an Vorsatz sowie Tatentschluss – den für Täter_innenschaft zentralen Merkmalen. Gleichwohl ist auch dieses Kind für seine Aussage verantwortlich.
Unter der Kategorie des Milieus erfasst LIDA-SH das (politischen) Milieu, dass in dem Vorfall zum Ausdruck kommt. Dieses ergibt sich aus den Umständen und den Kontexten des antisemitischen Vorfalls, die Aufschluss über Einstellungen und Ideologien der Täter_innen /Verantwortlichen geben können.
Wir treffen diese Einschätzung auf Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Informationen, wie etwa der Beschreibungen der Meldenden, Zeit und Ort des Vorfalls sowie den Eigenheiten des Vorfalls an sich. Grundsätzlich ordnen wir einen Vorfall einem bestimmten Milieu nur dann zu, wenn wir davon ausgehen, dass diese Zuordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt ist. Haben wir Zweifel oder liegen keine Informationen vor, weisen wir das Milieu als „nicht zuordenbar“ aus.
Die Erfassung des politischen Milieus ist mit zwei zentralen Herausforderungen verbunden:
Erstens sind wir häufig im hohen Maße auf die Einschätzungen der Meldenden angewiesen. Das bedeutet auch, dass Aussagen zum Milieu der Täter_innen von der Sensibilität der Meldenden für das jeweilige Milieu sowie ihren eigenen Zuschreibungen abhängig ist. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlicher, dass ein extrem rechter Tathintergrund häufiger erkannt wird als beispielsweise ein evangelikaler. Hinzu kommt, dass für manche Ideologien, wie zum Beispiel die der extremen Rechten, der Antisemitismus konstitutiv ist. Antisemitismus als ideologisches Fragment tritt hier meist nicht nur offen und eindeutig auf, er ist Meldenden in der Regel auch als ein zentrales Ideologiefragment bekannt. Wir vermuten darüber hinaus, dass Meldende eine Zuordnung zu einem bestimmten Milieu vor allem dann vornehmen, wenn dieses für sie besonders auffällig oder markant ist beziehungsweise im Besonderen von der sozialen Norm abweicht.
Eine zweite Herausforderung besteht in der Zuordnung von Vorfällen, deren Täter_innen bzw. Verantwortliche gänzlich unbekannt sind. Dies ist etwa bei Beschädigungen oder Schmierereien im öffentlichen Raum häufig der Fall. Hier können wir nur aus den Umständen des Vorfalls schließen. Zu den Umständen zählen wir zum Beispiel Zeitpunkt und Ort des Vorfalls. Wenn am 20.April (Geburtstag von Adolf Hitler) ein jüdischer Friedhof mit Hakenkreuzen geschändet wird, ist ein extrem rechter Tathintergrund wahrscheinlicher als dies an einem anderen Tag und anderen Schmierereien der Fall wäre.
EBENE 5
MELDUNG 2022
Da ein Großteil der für 2022 dokumentierten Vorfälle an der Schwelle zur Strafbarkeit liegen, überrascht es nicht, dass lediglich ein Drittel aller gemeldeter Vorfälle auch bei der Polizei zur Anzeige gebracht wurden. Die Erfahrung von LIDA-SH zeigt, dass Meldende Vorfälle häufig nicht zur Anzeige bringen, weil sie sich nicht sicher sind, ob das Erlebte überhaupt strafbar ist. Zudem hält immer wieder auch ein fehlendes Vertrauen zu oder vorangegangene schlechte Erfahrungen mit Ermittlungsbehörden Meldende von einer Anzeige ab.
Nichtsdestotrotz: Von den 24 Vorfällen, die Meldende in 2022 nicht nur bei LIDA-SH gemeldet, sondern auch bei der Polizei zur Anzeige gebracht haben, tauchen nur 6 (25%) in der Statistik antisemitischer Straftaten der Polizei auf. Dieser Umstand zeigt deutlich, dass nicht alle angezeigten Vorfälle auch im Rahmen der polizeilichen Statistik, KPMD-PMK, als antisemitisch anerkannt werden.
Neben Informationen, die eine genauere Analyse der Struktur antisemitischer Vorfälle erlaubt, erfasst LIDA-SH auch weitere Informationen zur Meldung selbst. So dokumentiert LIDA-SH auch systematisch ob ein Vorfall nicht nur bei der Dokumentationsstelle, sondern auch an anderer Stelle gemeldet wurde. Die Erfassung der Institutionen, die neben LIDA-SH Kenntnis von einem Vorfall haben bildet einerseits die Basis für einen Abgleich anderer Erhebungen, wie etwa der KPMD-PMK.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerungen des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein und des Landesdemokratiezentrums beim Landespräventionsrat Schleswig-Holstein dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der oder die Autor_in bzw. tragen die Autor_innen die Verantwortung.