Nun, nach drei Jahren Dokumentation antisemitischer Vorfälle, haben wir begonnen ein neues, digitales Format zu entwickeln, das Interessierten nicht nur einen besseren Zugang zu der von uns geschaffenen empirischen Basis über antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein und den darauf getroffenen Einschätzungen, sondern auch zu notwendigen und weiterführenden Informationen über das Erfassungssystem von LIDA-SH sowie zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus bieten wird.
Diese Auswertungsseite ist dabei der erste Schritt in der Entwicklung eines gänzlich neuen Formats. Ausgehend von dieser Auswertung der dokumentierten antisemitischen Vorfälle für das Jahr 2021 wollen wir kontinuierlich notwendige Funktionen und geeignete Darstellungsformate explorieren und sukzessive umsetzen. In diesem Prozess werden wir sowohl von WhiteTitle als auch vom Science Communication Lab unterstützt.
LIDA-SH ist die unabhängige Dokumentationsstelle für antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein. Wir dokumentieren antisemitische Vorfälle und werten sie strukturiert aus. Unser Ziel ist es Ausmaß, Formen und Schwerpunkte des Phänomens zu erheben. In unserer Arbeit orientieren wir uns an internationalen Standards …
Alle, die von einem antisemitischen Vorfall mitbekommen haben, können sich an LIDA-SH wenden. Sowohl Betroffene, Angehörige und Bekannte von Betroffenen als auch Zeug_innen.
LIDA-SH erfasst auch Vorfälle, die (noch) nicht bei der Polizei angezeigt wurden oder keinen Straftatbestand erfüllen. Informationen werden von uns grundsätzlich vertraulich behandelt. Wir verwenden Daten ausschließlich in anonymisierter Form, die keine Rückschlüsse auf natürliche Personen zulässt.
LIDA-SH wird durch das Landesdemokratiezentrum im Rahmen des Landesprogramms zur Demokratieförderung
und Rechtsextremismusbekämpfung gefördert.
Antisemitismus als alltägliches Phänomen manifestiert sich in unterschiedlichster Form und Intensität. Dabei ist die Dokumentationsstelle zentral auf konkrete Hinweise auf antisemitischen Vorfällen angewiesen. Gibt es Hinweise auf einen antisemitischen Vorfall in öffentlich zugänglichen Medien, wie etwa Zeitungen oder Polizeimeldungen, …
recherchieren wir alle notwendigen Informationen proaktiv. Werden Vorfälle nicht öffentlich bekannt, sind wir darauf angewiesen, dass Personen, die von einem antisemitischen Vorfall wissen, sich auch bei LIDA-SH melden.
Wie viele Vorfälle LIDA-SH dokumentiert, ist demnach nicht nur von der tatsächlichen Anzahl antisemitischer Vorfälle, sondern von vielen weiteren Faktoren – wie etwa den Bekanntheitsgrad der Dokumentationsstelle, die Sensibilität von potentiellen Melder_innen für Antisemitismus oder das Vertrauen von Melder_innen in die Dokumentationsstelle – abhängig.
Antisemitische Vorfälle, die LIDA-SH bekannt wurden, werden in einem strukturierten Prozess – häufig im Austausch mit Meldenden – auf Plausibilität geprüft und anschließend strukturiert erfasst. LIDA-SH erhebt zu jedem Vorfall im Rahmen des Möglichen Informationen auf vier Ebenen:
1. Charakteristika des Vorfalls
2. Ort und Kontext des Vorfalls
3. Informationen zu Betroffenen/Adressierten
4. Informationen zu Täter_innen/Verantwortlichen
5. Informationen zur Meldung
Neben der Dokumentation antisemitischer Vorfälle gehört die Auswertung der erhobenen Vorfälle zu den zentralen Aufgaben der Dokumentationsstelle. Im Rahmen des communitygestützten Ansatzes bezieht LIDA-SH unterschiedliche jüdische Perspektiven aus Schleswig-Holstein kontinuierlich in die eigene Arbeit, …
insbesondere aber in den Auswertungsprozess, aktiv mit ein. Unser Dank gilt an dieser Stelle denjenigen, die uns in den letzten Jahren an ihren Perspektiven haben teilhaben lassen.
Die Ergebnisse dieser Auswertungsprozesse macht LIDA-SH jährlich der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Jahre 2019 und 2020 sind dabei zwei Broschüren entstanden, in denen die empirischen Erkenntnisse und die darauf aufbauenden Analysen zum Phänomen Antisemitismus in Schleswig-Holstein vorgestellt werden. Diese können hier eingesehen werden.
Ausgangspunkt unserer Analysen sind die für ein Jahr dokumentierten antisemitischen Vorfälle. Demnach beziehen sich sämtliche Aussagen zu aktuellem Ausmaß und Struktur, sowie zu Veränderungen und Verschiebungen immer nur auf die von LIDA-SH dokumentierten Vorfälle. Auch wenn wir mit einem niedrigschwelligen Angebot …
die bestehenden Hemmschwellen bei der Meldung von Vorfällen senken können und kontinuierlich am Ausbau unseres Meldenetzwerkes arbeiten, müssen wir doch davon ausgehen, dass auch die von uns dokumentierten Vorfälle nur einen Ausschnitt des tatsächlichen alltäglichen Antisemitismus erfassen. Unsere Ergebnisse können das sogenannte Dunkelfeld also ein Stück weit erhellen – gänzlich auflösen lässt es sich nie.
Auch in Schleswig-Holstein ist Antisemitismus ein komplexes Phänomen, das sich in unterschiedlichster Form und Intensität ausdrückt. Wie im Vorjahr hat LIDA-SH auch für das Jahr 2021 70 Vorfälle dokumentiert. Im Schnitt erfasst LIDA-SH damit mehr als einen Vorfall pro Woche.
Der Großteil dieser Vorfälle lassen sich unterhalb der Schwelle zum Angriff verorten. So manifestiert sich Antisemitismus häufig in Form von antisemitischen Äußerungen und Beleidigungen so wie in Beschädigungen an nichtjüdischem Eigentum. Auch wenn sich diese Struktur fortsetzt, musste LIDA-SH für das Jahr 2021 mehr Angriffe und Bedrohung als in den Vorjahren dokumentieren – Vorfälle also, die mit einem erhöhtem Gefährdungspotential für Betroffene einhergehen. Diese Angriffe passieren dabei nicht im luftleeren Raum, sondern sind vielmehr Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Klimas.
Antisemitische Vorfälle finden häufig im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder in der Schule – immer wieder aber auch im direkten Wohnumfeld von Betroffenen statt. Wenn man so will, kann man in Schleswig-Holstein so gut wie überall mit Antisemitismus konfrontiert sein.
Die hohe Zahl verhältnismäßig niedrigschwelliger Vorfälle in Kombination mit den vielfältigen Orten, an denen diese stattfinden, verweist auf eine erschreckende Alltäglichkeit antisemitischer Vorfälle.
Außerdem werden in Vorfällen oftmals keine Personen direkt adressiert. Damit sich Antisemitismus Bahn bricht, bedarf es auch in Schleswig-Holstein nicht zwingend die Anwesenheit Dritter.
Auffallend ist zudem ein hohes Maß an Verschiebungen innerhalb unterschiedlicher Erscheinungsformen des Antisemitismus, sowohl zwischen den letzten drei Jahren, als auch innerhalb des letzten Jahres. Dieser Befund verweist unserer Einschätzung nach vor allem auf die Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen für die öffentlich wahrnehmbare Artikulation von Antisemitismus.
DELIKTQUALITÄT 2021
No Data Found
Die Spannbreite der dokumentierten antisemitischen Vorfälle ist hoch. Dennoch äußert sich Antisemitismus auch in 2021 häufig niedrigschwellig in Form von verletzendem Verhalten. Gleichzeitig wurden im Vergleich zu den Vorjahren sowohl mehr Bedrohungen als auch Angriffe dokumentiert.
Die hohe Anzahl dokumentierter niedrigschwelliger Vorfälle verweist zunächst auf eine erschreckende Alltäglichkeit antisemitischer Vorfälle: Es muss davon ausgegangen werden, dass diese deutlich häufiger passieren und auch für LIDA-SH oft „unter dem Radar“ bleiben. Dann zeigt sich, dass dieses antisemitische Grundrauschen ohne weiteres in Gewalttaten umschlagen kann. Mit den potentiellen Auswirkungen antisemitischer Vorfälle beschäftigt sich die Broschüre aus dem Jahr 2019.
LIDA-SH unterscheidet je nach Art und Schwere des Vorfalls sechs verschiedene Deliktqualitäten. Diese Typen wurden ursprünglich vom Community Security Trust (CST) in Großbritannien entwickelt und zunächst von RIAS Berlin und dann von LIDA-SH für den deutschen Kontext angepasst.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Deliktqualitäten:
VERTEILUNG 2021
VERTEILUNG LANDKREISE
VERTEILUNG SOZIALER RAUM
No Data Found
Für das Jahr 2021 hat LIDA-SH in fast jedem Landkreis antisemitische Vorfälle dokumentiert. Die Unterschiede sind vor allem durch den Grad der Vernetzung und damit mit der Bekanntheit des Angebots von LIDA-SH zu erklären.
Antisemitische Vorfälle ereignen sich nach wie vor am häufigsten offline, im öffentlichen Raum. Dabei wurden in 2021 auffallend oft Vorfälle im Kontext von Demonstrationen dokumentiert. Hier materialisieren sich antisemitische Einstellungen öffentlich wahrnehmbar als Teil einer bewussten politischen Artikulation.
Ein Großteil der dokumentierten Vorfälle am Arbeitsplatz sind Mails mit antisemitischer Propaganda. Auch wenn LIDA-SH deutlich mehr dieser Vorfälle dokumentiert hat, handelt es sich nicht um ein neues Phänomen. Das hohe Aufkommen zeigt vielmehr, dass das Meldenetzwerk größer und Meldewege passgenauer geworden sind.
Die räumliche Verteilung der dokumentierten Vorfälle verweist auf eine Omnipräsenz von Antisemitismus im alltäglichen Leben.
Unter Tatkontext/sozialer Raum wird der soziale Kontext in dem ein Vorfall stattfindet, erfasst. Gerade im Hinblick auf Vorfälle, die im Internet stattfinden bzw. über das Internet vermittelt sind, erscheint eine solche Differenzierung notwendig: Wenn beispielsweise Personen in einer geschlossenen Chatgruppe einer Schulklasse antisemitische Memes verbreiten, so ereignet sich dieser Vorfall zwar online, hat aber gleichzeitig einen eindeutigen Bezug zu der jeweiligen Schulklasse und damit zum sozialen Raum Schule.
ERSCHEINUNGSFORM 2021
ERSCHEINUNGSFORM 2019–2021
No Data Found
ERSCHEINUNGSFORM 2021
No Data Found
Wie bereits in den Jahren 2019 und 2020 ist auch im Jahr 2021 der Post-Schoa-Antisemitismus die häufigste dokumentierte Erscheinungsform. Dies hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass Meldende diese Erscheinungsform am ehesten als antisemitisch erkennen.
Bemerkenswert sind daneben die Verschiebungen sowohl zwischen, als auch innerhalb der Jahre: 2020 konnte eine Verschiebung von einem israelbezogenen Antisemitismus hin zu einem modernen Antisemitismus beobachtet werden. Dieser ist häufig in umfassendere Verschwörungserzählungen eingebettet, die im Jahr 2020 vor allem im Zuge der Corona-Pandemie deutlich wahrnehmbarer waren.
Für das Jahr 2021 spielt diese Erscheinungsform hingegen eine untergeordnete Rolle. So wurden LIDA-SH auch im Kontext der Pandemie deutlich seltener die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungserzählungen bekannt. Stattdessen wurden in diesem Kontext mehr Vorfälle, in denen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mit der Shoa verglichen wurden, dokumentiert.
Mit 23 Vorfällen konnten in 2021 aber beinahe genau so viel Vorfälle einem Israelbezogenen Antisemitismus wie einem Post-Shoa-Antisemitismus (25) zugeordnet werden. Die Verteilung der dokumentierten Vorfälle nach Monaten des Jahres 2021 zeigt dabei, dass etwa die Hälfte aller Vorfälle dieser Erscheinungsform im Kontext der Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts im Mai und Juni 2021 dokumentiert wurden. Allein 5 Vorfälle, darunter ein Angriff, fanden im Kontext von Demonstrationen statt.
Diese Verschiebungen zeigen deutlich, dass Struktur und Verbreitung antisemitischer Vorfälle im hohen Maße von Gelegenheitsstrukturen abhängig sind.
Antisemitismus drückt sich in vielfältiger Art und Weise aus. Diese Kategorie erfasst welche Erscheinungsform des Antisemitismus in dem Vorfall zum Ausdruck kommt. Oft sind die Erscheinungsformen, in denen der Antisemitismus zum Ausdruck kommt in der Praxis miteinander verwoben. Bei dieser Differenzierung handelt es sich um eine kategorial-analytische Trennung in der erfasst wird, welche Erscheinungsform vordergründig ist.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Erscheinungsformen:
VERHÄLTNIS 2021
No Data Found
Auch im Jahr 2021 richtet sich ein Großteil der Vorfälle nicht gegen konkrete Einzelpersonen oder Institutionen. Bei jenen Vorfällen, in denen konkrete Personen oder Institutionen adressiert werden, fällt auf, dass nichtjüdische Personen oder Institutionen häufiger adressiert werden als Jüdinnen_Juden bzw. jüdische Institutionen.
Antisemitismus richtet sich in erster Linie gegen Jüdinnen und Juden – auch dann, wenn sie nicht unmittelbar und direkt adressiert werden. Die Struktur der dokumentierten Vorfälle zeigt vielmehr noch: Antisemitismus benötigt die Anwesenheit von Jüdinnen_Juden nicht um sich Bahn zu brechen.
Wenn ein Vorfall direkt adressiert ist, kennen sich die Personen meist nicht. Dies ist typisch für Zuschreibungs- und Botschaftstaten, zu denen auch antisemitische Vorfälle gezählt werden können.
Die meisten Vorfälle äußern sich in einer Art und Weise, die keinerlei Zuordnung zu irgendeinem politischen Milieu erlauben. Hier zeigt sich, dass antisemitische Einstellungen, die sich jederzeit in antisemitischen Vorfällen materialisieren können, nicht nur ein Phänomen an vermeintlichen „politischen Rändern der Gesellschaft“, sondern ein tief in der Gesamtgesellschaft verwurzeltes Problem darstellen.
Unter Adressierung wird erfasst, ob sich ein Vorfall gegen eine bestimmte Person, Gruppe oder Institution richtet, um wen es sich dabei ggf. handelt und ob diese Person direkt adressiert wird. So ist beispielsweise die Schmiererei „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ an einer Bushaltestelle eindeutig antisemitisch und gegen Juden gerichtet. Allerdings wird dabei weder eine konkrete Person noch eine Institution direkt adressiert. Im Unterschied dazu richtet sich die Verwendung des Ausspruchs „Du Jude“ als Beleidigung gegen eine konkrete Person.
Sofern in einem Vorfall eine Person oder Institution direkt adressiert wird, erfasst LIDA-SH auch in welchem Verhältnis Adressierte zu Täter_innen bzw. Verantwortlichen stehen.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerungen des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein und des Landesdemokratiezentrums beim Landespräventionsrat Schleswig-Holstein dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der oder die Autor_in bzw. tragen die Autor_innen die Verantwortung.