Diese Auswertungsseite verfolgt das Ziel Interessierten nicht nur einen besseren Zugang zu der von uns geschaffenen empirischen Basis über antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein und den darauf getroffenen Einschätzungen, sondern auch zu notwendigen und weiterführenden Informationen über das Erfassungssystem von LIDA-SH sowie zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus zu bieten. Diese Auswertungsformat betrachten wir dabei nicht als abgeschlossen, sondern als vorläufiges Ergebnis eines längerfristigen Prozesses, der nur durch unsere externen Partner_innen möglich geworden ist.
Zuallererst gilt unser Dank unseren jüdischen Partner_innen: Für ihr Vertrauen, ihre Bereitschaft uns an ihren Perspektiven teilhaben zu lassen und ihre kontinuierliche Unterstützung in unserer Arbeit. Dann möchten wir uns bei unseren weiteren Netzwerkpartner_innen bedanken. Mit ihren Meldungen haben sie wesentlich dazu beitragen Antisemitismus sichtbarer zu machen. Schließlich möchten wir WhiteTitle, die LIDA-SH von Beginn an in der Konzeption und Umsetzung der visuellen Kommunikation maßgeblich unterstützt haben und Science Communication Lab, die mit ihrer großzügigen Unterstützung die Auswertungsseite in dieser Form erst ermöglicht haben, danken.
LIDA-SH ist die unabhängige Dokumentationsstelle für antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein. Wir dokumentieren antisemitische Vorfälle und werten sie strukturiert aus. Unser Ziel ist es Ausmaß, Formen und Schwerpunkte des Phänomens zu erheben. In unserer Arbeit orientieren wir uns an internationalen Standards …
Alle, die von einem antisemitischen Vorfall mitbekommen haben, können sich an LIDA-SH wenden. Sowohl Betroffene, Angehörige und Bekannte von Betroffenen als auch Zeug_innen.
LIDA-SH erfasst auch Vorfälle, die (noch) nicht bei der Polizei angezeigt wurden oder keinen Straftatbestand erfüllen. Informationen werden von uns grundsätzlich vertraulich behandelt. Wir verwenden Daten ausschließlich in anonymisierter Form, die keine Rückschlüsse auf natürliche Personen zulässt.
LIDA-SH wird durch das Landesdemokratiezentrum im Rahmen des Landesprogramms zur Demokratieförderung
und Rechtsextremismusbekämpfung gefördert.
Antisemitismus als alltägliches Phänomen manifestiert sich in unterschiedlichster Form und Intensität. Dabei ist die Dokumentationsstelle zentral auf konkrete Hinweise auf antisemitischen Vorfällen angewiesen. Gibt es Hinweise auf einen antisemitischen Vorfall in öffentlich zugänglichen Medien, wie etwa Zeitungen oder Polizeimeldungen, …
recherchieren wir alle notwendigen Informationen proaktiv. Werden Vorfälle nicht öffentlich bekannt, sind wir darauf angewiesen, dass Personen, die von einem antisemitischen Vorfall wissen, sich auch bei LIDA-SH melden.
Wie viele Vorfälle LIDA-SH dokumentiert, ist demnach nicht nur von der tatsächlichen Anzahl antisemitischer Vorfälle, sondern von vielen weiteren Faktoren – wie etwa den Bekanntheitsgrad der Dokumentationsstelle, die Sensibilität von potentiellen Melder_innen für Antisemitismus oder das Vertrauen von Melder_innen in die Dokumentationsstelle – abhängig.
Antisemitische Vorfälle, die LIDA-SH bekannt wurden, werden in einem strukturierten Prozess – häufig im Austausch mit Meldenden – auf Plausibilität geprüft und anschließend strukturiert erfasst. LIDA-SH erhebt zu jedem Vorfall im Rahmen des Möglichen Informationen auf vier Ebenen:
1. Charakteristika des Vorfalls
2. Ort und Kontext des Vorfalls
3. Informationen zu Betroffenen/Adressierten
4. Informationen zu Täter_innen/Verantwortlichen
5. Informationen zur Meldung
Neben der Dokumentation antisemitischer Vorfälle gehört die Auswertung der erhobenen Vorfälle zu den zentralen Aufgaben der Dokumentationsstelle. Im Rahmen des communitygestützten Ansatzes bezieht LIDA-SH unterschiedliche jüdische Perspektiven aus Schleswig-Holstein kontinuierlich in die eigene Arbeit, …
insbesondere aber in den Auswertungsprozess, aktiv mit ein. Unser Dank gilt an dieser Stelle denjenigen, die uns in den letzten Jahren an ihren Perspektiven haben teilhaben lassen.
Die Ergebnisse dieser Auswertungsprozesse macht LIDA-SH jährlich der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Jahre 2019 und 2020 sind dabei zwei Broschüren entstanden, in denen die empirischen Erkenntnisse und die darauf aufbauenden Analysen zum Phänomen Antisemitismus in Schleswig-Holstein vorgestellt werden. Diese können hier eingesehen werden.
Ausgangspunkt unserer Analysen sind die für ein Jahr dokumentierten antisemitischen Vorfälle. Demnach beziehen sich sämtliche Aussagen zu aktuellem Ausmaß und Struktur, sowie zu Veränderungen und Verschiebungen immer nur auf die von LIDA-SH dokumentierten Vorfälle. Auch wenn wir mit einem niedrigschwelligen Angebot …
die bestehenden Hemmschwellen bei der Meldung von Vorfällen senken können und kontinuierlich am Ausbau unseres Meldenetzwerkes arbeiten, müssen wir doch davon ausgehen, dass auch die von uns dokumentierten Vorfälle nur einen Ausschnitt des tatsächlichen alltäglichen Antisemitismus erfassen. Unsere Ergebnisse können das sogenannte Dunkelfeld also ein Stück weit erhellen – gänzlich auflösen lässt es sich nie.
Auch in Schleswig-Holstein ist Antisemitismus ein komplexes Phänomen, das sich in unterschiedlichster Form und Intensität ausdrückt. Für das Jahr 2023 hat LIDA-SH mit 120 Vorfällen einen massiven Anstieg dokumentierter antisemitischer Vorfälle verzeichnet. Im Schnitt erfasst LIDA-SH damit mehr als zwei Vorfälle pro Woche. Die hohe Anzahl dokumentierter Vorfälle stehen dabei in einem direkten Zusammenhang mit den Reaktionen auf den antisemitischen und misogynen Terroranschlag vom 07.10.2023 und dem sich anschließenden Krieg.
Die Struktur der dokumentierten Vorfälle verweist zudem auf ein massives Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle: Es muss davon ausgegangen werden, dass nur ein Bruchteil der Vorfälle auch von LIDA-SH dokumentiert werden konnten.
Auch wenn der Großteil der dokumentierten Vorfälle unterhalb der Schwelle zum Angriff zu verorten ist, bleiben die dokumentierten Vorfälle, die mit einem erhöhtem Gefährdungspotential einhergehen, weiter auf einem hohen Niveau.
➞ ZUM ABSCHNITT
Hinzu kommt, dass in den Vorfällen deutlich häufiger als in den vergangenen Jahren konkrete Personen oder Institutionen adressiert werden. Im Vergleich zum Vorjahr wurden nochmal deutlich mehr Vorfälle dokumentiert, in denen Jüdinnen und Juden direkt adressiert sind. Ein Großteil der Vorfälle, in denen Jüdinnen und Juden direkt adressiert wurden, wurde vor dem 07.10.2023 dokumentiert. Auch diese Vorfälle passieren dabei nicht im luftleeren Raum, sondern sind vielmehr Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Klimas, in dem gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Angriffe erst möglich werden.
➞ ZUM ABSCHNITT
Antisemitische Vorfälle wurden für 2023 in nahezu allen Landkreisen dokumentiert. Diese finden häufig im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder im Kontext von Demonstrationen statt. Zudem wurden für 2023 doppelt so viele Vorfälle, die im persönlichen Nahraum von Adressierten passieren, dokumentiert. Die hohe Anzahl vergleichsweise niedrigschwelliger Vorfälle, kombiniert mit den verschiedenen Orten, an denen diese stattfinden, deutet auf die erschreckende Alltäglichkeit antisemitischer Vorfälle hin.
➞ ZUM ABSCHNITT
Innerhalb der dokumentierten Vorfälle nimmt der israelbezogene Antisemitismus weiterhin eine zunehmend bedeutende Rolle ein. In 2023 ist er mit Abstand die am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform. Die Reaktionen auf den Terroranschlag vom 07. Oktober und dem sich anschließenden Krieg sowie das hohe Maß an Verschiebungen innerhalb unterschiedlicher Erscheinungsformen des Antisemitismus weisen dabei auf die Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen für die öffentlich wahrnehmbare Artikulation von Antisemitismus hin.
➞ ZUM ABSCHNITT
Die Anzahl der durch die Ermittlungsbehörden erfassten antisemitischen Straftaten hat sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Dabei muss von einer nur marginalen Überschneidung zwischen den durch LIDA-SH dokumentierten antisemitischen Vorfällen und den polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten ausgegangen werden. Dieser Befund zeigt nicht nur die Bedeutung einer zivilgesellschaftlichen Erfassung antisemitischer Vorfälle auch unterhalb der Grenze zur Strafbarkeit, er lässt auch ein immenses Dunkelfeld antisemitische Vorfälle erahnen.
➞ ZUM ABSCHNITT
EBENE 1
DELIKTQUALITÄT 2023
DELIKTQUALITÄT NACH MONATEN 2023
Die Bandbreite der dokumentierten antisemitischen Vorfälle ist erheblich. Antisemitismus manifestiert sich weiterhin allzu oft in verletzendem Verhalten, das leider als alltäglich anzusehen ist und daher vermutlich deutlich häufiger vorkommt, als uns gemeldet wird. Insbesondere nach dem Terrorangriff der Hamas und anderer Organisationen am 7. Oktober wurden verstärkt Vorfälle registriert, was zu einem Anstieg des verletzenden Verhaltens im Verlauf des Jahres 2023 führte.
Von der Deliktqualität lässt sich nicht unmittelbar auf die Auswirkungen schließen, die ein antisemitischer Vorfall haben kann. Mit den potentiellen Auswirkungen antisemitischer Vorfälle beschäftigt sich die Auswertungsbroschüre aus dem Jahr 2019 sowie die Publikation unseres Bundesverbandes.
Dokumentierte Vorfälle, die mit einem erhöhtem Gefährdungspotential für Betroffene einhergehen, bleiben auch 2023 auf einem hohen Niveau. Es zeigt sich, dass das antisemitische Grundrauschen ohne weiteres in Gewalttaten umschlagen kann. Zudem wurde eine deutliche Zunahme gezielter antisemitischer Beschädigungen, häufig an den gleichen Orten, dokumentiert.
LIDA-SH unterscheidet je nach Art und Schwere des Vorfalls sechs verschiedene Deliktqualitäten. Diese Typen wurden ursprünglich vom Community Security Trust (CST) in Großbritannien entwickelt und zunächst von RIAS Berlin und dann von LIDA-SH für den deutschen Kontext angepasst.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Deliktqualitäten:
ERSCHEINUNGSFORM 2019–2023
ISRAELBEZOGENER ANTISEMITISMUS 2023
Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren ist der Post-Schoa-Antisemitismus nicht mehr die häufigste dokumentierte Erscheinungsform. Dieser bewegt sich innerhalb der dokumentierten Vorfälle zwar auf einem konstant hohen Niveau, jedoch ist auch im Jahr 2023 der israelbezogene Antisemitismus nicht nur die häufigste, sondern auch kontinuierlich steigende dokumentierte Erscheinungsform.
Ein Großteil der dokumentierten Vorfälle, die dieser Erscheinungsform zuzuordnen sind, besteht aus antisemitischen Beleidigungen und dem Verbreiten von israelfeindlichem Propagandamaterial. Ebenso werden vermehrt Vorfälle im Kontext von Demonstrationen, aber auch in sozialen Umgebungen wie Schulen oder Geschäftsstellen Vorfälle mit israelbezogenem Antisemitismus gemeldet.
Im Gegensatz zum Jahr 2022 wurden in diesem Jahr vermehrt Vorfälle dokumentiert, die dem modernen Antisemitismus zuzuordnen sind.
Wie die Verschiebungen sowohl alljährig als auch innerhalb der Jahre deutlich zeigen, ist die Struktur und Verbreitung antisemitischer Vorfälle in hohem Maße von Gelegenheitsstrukturen abhängig. Analytisch lässt sich feststellen, dass diese einen exogenen Anlass haben, der begleitet von umfassenden Social-Media-Kampagnen und Versammlungen auf der Straße erst die Möglichkeitsräume schafft, sich unverhohlen und öffentlich wahrnehmbar antisemitisch zu äußern.
Ob sich die aktuelle Entwicklung fortsetzen wird, hängt demnach auch davon ab, welche Artikulationsräume für die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus entstehen und wie lange sich diese halten können.
Antisemitismus drückt sich in vielfältiger Art und Weise aus. Diese Kategorie erfasst welche Erscheinungsform des Antisemitismus in dem Vorfall zum Ausdruck kommt. Oft sind die Erscheinungsformen, in denen der Antisemitismus zum Ausdruck kommt in der Praxis miteinander verwoben. Bei dieser Differenzierung handelt es sich um eine kategorial-analytische Trennung in der erfasst wird, welche Erscheinungsform vordergründig ist.
LIDA-SH unterscheidet zwischen folgenden Erscheinungsformen:
EBENE 2
VERTEILUNG LANDKREISE 2023
In 2023 hat LIDA-SH in nahezu allen Landkreise in Schleswig-Holstein antisemitische Vorfälle dokumentiert. Dabei fällt auf, dass auch in diesem Jahr mit Abstand die meisten Vorfälle für die Stadt Kiel dokumentiert wurden. Anders als die Zahlen vermuten lassen, bedeutet dies nicht unbedingt, dass sich in Kiel deutlich mehr antisemitische Vorfälle als andernorts ereignen. Die Fülle der dokumentierten Vorfälle deutet zunächst auf einen hohen Grad der Vernetzung und damit auf die Bekanntheit des Angebots von LIDA-SH hin. Auch die infrastrukturellen Gegebenheiten der Großstadt, mitsamt der Fülle der hier ansässigen Institutionen, bieten hier einen Erklärungsansatz.
Bei der Aufschlüsselung nach Landkreisen fällt auf, dass im Gegensatz zum Vorjahr in diesem Jahr bis auf einen nahezu jeder Landkreis betroffen ist. Insbesondere in der Stadt Rendsburg ist für das Jahr 2023 ein deutlicher Anstieg an Vorfällen zu verzeichnen. Dabei fällt auf, dass die meisten dieser Vorfälle sich besonders häufig in Form von israelbezogenem Antisemitismus äußern.
Unter Ort wird der Landkreis (oder die Kreisfreie Stadt), in dem sich der Vorfall ereignet hat angegeben. Dies Erfassung der Landkreise ist hilfreich um „weiße Flecken“ erkennen zu können und Hotspots antisemitischer Vorfälle lokalisieren zu können. Die Angabe der konkreten Straße kann zudem hilfreich sein um zu überprüfen, ob ein Vorfall möglicherweise bereits dokumentiert wurde. Eine weiterführende Erfassung des Ortes, an dem sich ein Vorfall ereignet hat, wie Stadt und Straße, wird nach Möglichkeit wird zwar durchgeführt, aber zum Schutz der Anonymität von Meldenden und Betroffenen nicht veröffentlicht. Die Erfassung ist dennoch notwendig, da so sichergestellt werden kann, dass Vorfälle – wie zum Beispiel eine Sachbeschädigung im öffentlichen Raum – nicht mehrfach dokumentiert wird.
VERTEILUNG SOZIALER RAUM
(aufgeteilt nach Lokalität)
Die Struktur der dokumentierten antisemitischen Vorfälle zeigt, dass solche Vorkommnisse nahezu überall und in vielfältigen Kontexten auftreten können. Im Jahr 2023 konnten wir besonders einen Anstieg der gemeldeten Vorfälle an Arbeitsstätten dokumentieren. Ein Großteil davon betrifft eine Serie von Vorfällen in einer Geschäftsstelle in Rendsburg. Im Folgenden wird gesondert auf diese Vorfälle eingegangen.
Auch im Jahr 2023 wurden zahlreiche Vorfälle im Zusammenhang mit Demonstrationen dokumentiert. Hier manifestieren sich antisemitische Einstellungen öffentlich als Teil einer bewussten politischen Äußerung auf der Straße. Dabei zeigt der Anstieg auch ein zu differenzierendes Ausmaß: Nicht alle Vorfälle, die hier Demonstrationen zugeordnet sind, können als antisemitisch bezeichnet werden. Deutlich häufiger sind LIDA-SH Vorfälle am Rande von pro-israelischen Kundgebungen bzw. Demonstrationen gegen Antisemitismus bekannt geworden. Dass Menschen sich solidarisch mit der israelischen Zivilbevölkerung zeigten oder der verschleppten Frauen und Kinder gedachten, war oft Anlass für antisemitische Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe. Darüber hinaus muss unterschieden werden: Weniger als die Hälfte der Demonstrationen, auf denen antisemitische Vorfälle dokumentiert wurden standen in einem direkten Bezug zum Terrorangriff auf Israel.
Ebenso wurden wiederholt und häufiger als in den Vorjahren antisemitische Vorfälle dokumentiert, die sich an einem geschützten Ort, wie etwa dem Wohnumfeld, ereignet haben. Auch wenn diese Vorfälle bei weitem nicht den Großteil der dokumentierten antisemitischen Vorfälle ausmachen, sind diese dennoch im Besonderen ernst zu nehmen. Gerade Vorfälle im persönlichen Nahraums können das Sicherheitsgefühlt von Betroffenen massiv beeinträchtigen.
Grundsätzlich verweist die Vielfältigkeit der sozialen Kontexte und Lokalitäten, an denen antisemitische Vorfälle dokumentiert wurden, auf die Allgegenwärtigkeit von Antisemitismus: Nahezu überall kann es zu antisemitischen Vorfällen kommen.
Unter Tatkontext/sozialer Raum wird der soziale Kontext in dem ein Vorfall stattfindet, erfasst. Gerade im Hinblick auf Vorfälle, die im Internet stattfinden bzw. über das Internet vermittelt sind, erscheint eine solche Differenzierung notwendig: Wenn beispielsweise Personen in einer geschlossenen Chatgruppe einer Schulklasse antisemitische Memes verbreiten, so ereignet sich dieser Vorfall zwar online, hat aber gleichzeitig einen eindeutigen Bezug zu der jeweiligen Schulklasse und damit zum sozialen Raum Schule.
EBENE 3
ADRESSIERUNG 2019–2023
Adressierung 2019-2023
Jüdinnen, Juden und jüdische Institutionen
In Bezug auf die Adressierung war im Jahr 2023 eine geringfügige Veränderung zu verzeichnen. Denn auch in diesem Jahr waren verstärkt konkrete Einzelpersonen sowie Institutionen betroffen. Dieser Trend setzte sich aus dem Vorjahr fort, auch wenn weiterhin viele Vorfälle ohne Adressierung dokumentiert wurden.
Insbesondere nach dem 07.10.23 wurden nichtjüdische Institutionen und Zivilgesellschaft wiederholt in dokumentierten antisemitischen Vorfällen adressiert. Während ein nicht unwesentlicher Teil der dokumentierten Vorfälle, in denen Institutionen adressiert wurden, zu den wiederkehrenden Vorfällen in Rendsburg zählen, sind Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft vor allem am Rande von Pro-Israelischen Kundgebungen und Demonstrationen gegen Antisemitismus antisemitisch angegangen worden.
Aus unserem vertrauensvollen Austausch mit den jüdischen Communities wissen wir, dass sich viele Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober aus Sorge vor Angriffen noch stärker aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, um so unsichtbar wie möglich zu werden. Daher überrascht es nicht, dass ein Großteil der adressierten Vorfälle nach dem 7.10.23 nicht-jüdische Einzelpersonen trifft.
Mit Blick auf das gesamte Jahr 2023 muss festgestellt werden, dass dokumentierte Vorfälle nicht nur häufiger adressiert sind, sie adressieren zudem auch häufiger Jüdinnen und Juden sowie Orte jüdischen Lebens. Auch solche Vorfälle finden nie in einem luftleeren Raum statt – das massive antisemitische Grundrauschen, welches LIDA-SH seit 2019 dokumentiert, muss vielmehr als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden, in der gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Angriffe erst möglich werden.
Unter Adressierung wird erfasst, ob sich ein Vorfall gegen eine bestimmte Person, Gruppe oder Institution richtet, um wen es sich dabei ggf. handelt und ob diese Person direkt adressiert wird. So ist beispielsweise die Schmiererei „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ an einer Bushaltestelle eindeutig antisemitisch und gegen Juden gerichtet. Allerdings wird dabei weder eine konkrete Person noch eine Institution direkt adressiert. Im Unterschied dazu richtet sich die Verwendung des Ausspruchs „Du Jude“ als Beleidigung gegen eine konkrete Person.
Sofern in einem Vorfall eine Person oder Institution direkt adressiert wird, erfasst LIDA-SH auch in welchem Verhältnis Adressierte zu Täter_innen bzw. Verantwortlichen stehen.
EBENE 4
Landkarte Fälle in 2023
Aufschlüsselung nach Milieu
Verhältnis Adressierte zu Täter*innen/Verantwortliche
Für 2023 wurden deutlich häufiger Vorfälle dokumentiert, die einem Milieu des antiisraelischen Aktivismus zugeordnet werden mussten. Diese korreliert natürlich mit den Möglichkeitsräumen nach dem 7. Oktober, ist für Schleswig-Holstein aber neu: Von 2019 bis 2022 mussten Täter_innen und Verantwortliche besonders häufig dem extrem rechten Milieu zugeordnet werden.
Nach wie vor äußern sich die meisten Vorfälle aber in einer Art und Weise, die keinerlei Zuordnung zu irgendeinem politischen Milieu erlauben. Auch hier zeigt sich, dass antisemitische Einstellungen, die sich jederzeit in antisemitischen Vorfällen materialisieren können, nicht nur ein Phänomen an vermeintlichen „politischen Rändern der Gesellschaft“, sondern ein tief in der Gesamtgesellschaft verwurzeltes Problem darstellen.
Weiterhin konnten wir in der Dokumentation feststellen, dass bei einem Großteil der Vorfälle die Täter_innen und Adressaten sich in der Regel nicht kennen. Im Gegensatz dazu kennen sich Verantwortliche und Adressierte bei Vorfällen im Kontext Schule in der Regel. Auffallend ist hier auch, dass hier besonders häufig Vorfälle dokumentiert wurden, in denen das Sprechen über Antisemitismus zum Anlass für antisemitische Äußerungen und Beleidigungen diente.
Wir von LIDA-SH sprechen von Täter*innen bzw. Verantwortlichen, da der Täter*innen-Begriff nicht bei allen antisemitischen Vorfällen trennscharf ist. Etwa, wenn sich ein Kind in der Schule implizit antisemitisch äußert, fehlt es an Vorsatz sowie Tatentschluss – den für Täter*innenschaft zentralen Merkmalen. Gleichwohl ist auch dieses Kind für seine Aussage verantwortlich.
Unter der Kategorie des Milieus erfasst LIDA-SH das (politischen) Milieu, dass in dem Vorfall zum Ausdruck kommt. Dieses ergibt sich aus den Umständen und den Kontexten des antisemitischen Vorfalls, die Aufschluss über Einstellungen und Ideologien der Täter*innen /Verantwortlichen geben können.
Wir treffen diese Einschätzung auf Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Informationen, wie etwa der Beschreibungen der Meldenden, Zeit und Ort des Vorfalls sowie den Eigenheiten des Vorfalls an sich. Grundsätzlich ordnen wir einen Vorfall einem bestimmten Milieu nur dann zu, wenn wir davon ausgehen, dass diese Zuordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt ist. Haben wir Zweifel oder liegen keine Informationen vor, weisen wir das Milieu als „nicht zuordenbar“ aus.
Die Erfassung des politischen Milieus ist mit zwei zentralen Herausforderungen verbunden:
Erstens sind wir häufig im hohen Maße auf die Einschätzungen der Meldenden angewiesen. Das bedeutet auch, dass Aussagen zum Milieu der Täter*innen von der Sensibilität der Meldenden für das jeweilige Milieu sowie ihren eigenen Zuschreibungen abhängig ist. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlicher, dass ein extrem rechter Tathintergrund häufiger erkannt wird als beispielsweise ein evangelikaler. Hinzu kommt, dass für manche Ideologien, wie zum Beispiel die der extremen Rechten, der Antisemitismus konstitutiv ist. Antisemitismus als ideologisches Fragment tritt hier meist nicht nur offen und eindeutig auf, er ist Meldenden in der Regel auch als ein zentrales Ideologiefragment bekannt. Wir vermuten darüber hinaus, dass Meldende eine Zuordnung zu einem bestimmten Milieu vor allem dann vornehmen, wenn dieses für sie besonders auffällig oder markant ist beziehungsweise im Besonderen von der sozialen Norm abweicht.
Eine zweite Herausforderung besteht in der Zuordnung von Vorfällen, deren Täter*innen bzw. Verantwortliche gänzlich unbekannt sind. Dies ist etwa bei Beschädigungen oder Schmierereien im öffentlichen Raum häufig der Fall. Hier können wir nur aus den Umständen des Vorfalls schließen. Zu den Umständen zählen wir zum Beispiel Zeitpunkt und Ort des Vorfalls. Wenn am 20.April (Geburtstag von Adolf Hitler) ein jüdischer Friedhof mit Hakenkreuzen geschändet wird, ist ein extrem rechter Tathintergrund wahrscheinlicher als dies an einem anderen Tag und anderen Schmierereien der Fall wäre.
EBENE 5
MELDUNG 2023
Die Erfahrung von LIDA-SH zeigt, dass Meldende Vorfälle häufig nicht zur Anzeige bringen. Besonders häufig sind sich Betroffene nicht sicher, ob das Erlebte überhaupt strafbar ist. Zudem hält immer wieder auch ein fehlendes Vertrauen zu oder vorangegangene schlechte Erfahrungen mit Ermittlungsbehörden Meldende von einer Anzeige ab. Auffällig ist, dass sich die polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten verdoppelt hat [2022: 53, 2023: 115], während der Anteil dokumentierter Vorfälle, die auch bei der Polizei angezeigt wurden, rapide abnimmt. Auch dieser Befund verweist unserer Einschätzung nach auf ein massives Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle.
Die Zahlen der aktuellen polizeilichen Statistik liegen uns zwar bereits vor, jedoch aufgrund des von der Polizei verzeichneten neuen Höchststandes an antisemitischen Straftaten werden diese momentan noch detailliert ausgewertet.
Neben Informationen, die eine genauere Analyse der Struktur antisemitischer Vorfälle erlaubt, erfasst LIDA-SH auch weitere Informationen zur Meldung selbst. So dokumentiert LIDA-SH auch systematisch ob ein Vorfall nicht nur bei der Dokumentationsstelle, sondern auch an anderer Stelle gemeldet wurde. Die Erfassung der Institutionen, die neben LIDA-SH Kenntnis von einem Vorfall haben bildet einerseits die Basis für einen Abgleich anderer Erhebungen, wie etwa der KPMD-PMK.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerungen des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein und des Landesdemokratiezentrums beim Landespräventionsrat Schleswig-Holstein dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der oder die Autor_in bzw. tragen die Autor_innen die Verantwortung.